von ROLF MARTIN
Als die USA 1917 in den 1. Weltkrieg eintraten, wurde das Vergnügungsviertel „Storyville“ in New Orleans geschlossen, weil die Marine um die Kampfbereitschaft der Truppe fürchtete. Dieses Dekret machte nicht nur die in den Bordellen arbeitenden Damen brotlos, sondern auch Hunderte Jazzmusiker, die in den Etablissements engagiert waren.
Viele der arbeitslosen schwarzen Musiker fuhren daher anfangs der 1920er Jahre den Mississippi hinauf und zogen nach Chicago, der „Windy City“ am Michigan See. So kam es, dass die eigentliche Blütezeit des New-Orleans-Stils nicht in New Orleans, sondern in Chicago war. Hier wurden die berühmten Schallplatten von King Oliver und Louis Armstrong aufgenommen. In der „Southside“ Chicagos, dem Viertel der Schwarzen, florierte der Jazz wie zehn oder zwanzig Jahre vorher in New Orleans.
Junge Schüler und Studenten der weißen Mittelschicht begannen, die schwarzen Vorbilder zu kopieren und so entstand ein neuer Stil, der Chicago-Jazz. Er ist geprägt vom stärkeren Gewicht des Solos, wobei die im New-Orleans-Stil dominierende Kollektivimprovisation an Bedeutung verlor. Manche Aufnahmen bestehen beinahe aus einer bloßen Abfolge von Soli.
Der Chicago-Stil pflegt eine eher kühle Spielweise. In der Rhythmusgruppe verdrängen Gitarre und Kontrabass das Banjo und die Tuba. Das Schlagzeug akzentuiert stärker als bisher die Zählzeiten 2 und 4. Das Saxophon, das im New-Orleans-Stil praktisch nicht verwendet wurde, eroberte einen festen Platz in der Melodiegruppe.
Der Chicago-Stil war selbstverständlich nicht auf die Stadt Chicago beschränkt, sondern wurde auch andernorts, beispielweise in New York gepflegt. Seine Blütezeit endete mit der amerikanischen Wirtschaftskrise 1929.
Bekannte Vertreter des Chicago-Stils waren u.a. die Trompeter Bix Beiderbecke, Jimmy McPartland und Red Nichols, die Saxophonisten Frank Teschemacher, Bud Freeman, Frank Trumbauer und Adrian Rollini, die Posaunisten Miff Mole und Jack Teagarden sowie der Gitarrist Eddie Condon und der Geiger Joe Venuti.
Der überragende Musiker des neuen Stils aber war Bix (eigentlich Leon Bismarck) Beiderbecke, 1903 in Davenport geborener Sohn deutscher Einwanderer. Er sollte ursprünglich Konzertpianist werden, gab diesen Plan aber auf und brachte sich autodidaktisch das Kornettspiel bei. Seine erste Bekanntschaft mit dem Jazz machte er durch die Riverboats, die auf dem Mississippi an der Stadt vorbeifuhren und auf denen New-Orleans-Bands spielten. Mit 18 Jahren begann Bix öffentlich zu spielen und 1922 wurde er Berufsmusiker. 1923 wurde er Mitglied und Star-Kornettist der ersten richtigen Band des Chicago-Stils, den „Wolverines“. Er spielte bei verschiedenen großen Orchestern, unter anderem bei Paul Whiteman. 1927 stellte sich ein Lungenleiden ein, das, zusammen mit ausgiebigem Alkoholgenuss, bereits 1931 zum Tod des jungen Mannes führte.